Freitag, Mai 08, 2009

Memento

"tot“. Ich male das Wort auf ein weißes Blatt Papier, die „t“s als kleine Kreuze. Rückwärts gelesen: „tot“. Wie man es auch dreht und wendet, tot bleibt tot.

Es hat aufgehört zu regnen. Die Sonne scheint. Ein kühler Wind bahnt sich seinen Weg durch die Baumwipfel. Eigentlich ein schöner Tag. Ich hatte gesagt, ich bräuchte noch einen Moment und würde nachkommen. Ich gehe neben dem Auto auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Beobachte all die fremden Menschen, die mit gesenktem Haupt und schweren Schrittes durch das schmiedeeiserne Tor gehen. Versuche mich zu sammeln, um nicht irgendwann in Tränen auszubrechen.

"Vater unser im Himmel
/ geheiligt werde dein Name/ dein Reich komme/ dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden..."

Es ist wie ein Donnergrollen, dass plötzlich langsam näher kommt. Gänsehaut. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken, als ich diese nicht enden wollende schwarze Menge sehe, die sich in Viererreihen den Berg hoch, an mir vorbei, bewegt und dabei laut ein Gebet spricht. Die Familie. Beinahe farblos, so bleich sind sie. Dieser Moment brennt sich in mein Gehirn. Woher nehmen Menschen in solch einer Situation die Kraft zum Glauben?
"Liebe das, was dir geschieht, denn es geschieht alles genau zur rechten Zeit. Gott will dich nicht an einer Sache zerbrechen sehen, er will sehen ob du sie meisterst, mit der Hilfe die der Herr dir anbietet."!? Härter kann einem niemand ins Gesicht schlagen, wenn das einzige Kind leblos in einem Sarg liegt.

Meine Beine sind bleischwer. Gelähmt. Ich hasse Beerdigungen. Warum muss man eigentlich auf einer Beerdigung schwarz tragen? Warum zum Teufel sind alle Menschen schwarz gekleidet? Ich muss leise lachen. Meine Klamottenauswahl, ein cremeweißer Hosenanzug und Wollmantel, hätte ihm gefallen. Genau diesen Anzug trug ich als wir uns das erste Mal begegneten. Im Laufe des Abends das Glas Rotwein des Oberstleutnants in meinem Dekoltee landete und er mir infolgedessen lächelnd zwei Salzstreuer in die Hand drückte. Ich kann nicht in diese Kirche geschweige denn auf diesen Friedhof gehen. Zu groß ist der Respekt davor keine Worte zu finden, vor den Tränen der 500 Trauergäste, der Verzweiflung der Eltern, den Reden, der Musik, den Fotos, Gebeten. Der militärischen Bestattungszeremonie.

Er ist an die hundert Male aus einem Flugzeug gesprungen, war im Auslandseinsatz sowie auf 'gefährlichen' Übungen. Das hat er alles unbeschadet überstanden und jetzt soll er tot in einer Holzkiste liegen? In dieser Kirche? Es ist unwirklich. Während ich im zweiten Teil der Einstellungsprüfung hochkonzentriert über den Aufgaben der Trigonometrie, Funktionen, Logarithmen, Potenzen und Stochastik brütete, stieß er auf der Landstraße frontal mit einem entgegenkommenden PKW zusammen. Er lag schwer verletzt auf der kalten, regennassen Fahrbahn. Verblutete langsam innerlich. Während ich mich freute, dass ich die Prüfungen hinter mir hatte. Die Notärzte kämpften unerbittlich um sein Leben. Und während ich mich glücklich und erleichtert in den Armen meines Freundes vergrub, haben sie ihn verloren. Er ist gestorben. Auf dieser Straße. Einfach so. Drei Tage vor seinem 25. Geburtstag. Auf dem Weg eine Einbauküche zu kaufen. Am Geburtstag seiner Mutter. - Arschloch Leben.

Die Jungs waren tags zuvor erst mit der Kompanie von einer mehrwöchigen Übung aus der Pampa zurück gekommen. Er baute grad ein Haus neben seinem Elternhaus und befand sich in den letzten Zügen. An diesem Samstag wollte er unbedingt nach seiner Traumküche schauen, bevor die große Geburtstagsfeier seiner Mutter losging. Sie erzählte mir später, dass sie sauer auf ihn war, weil er sich verspätete und sie dachte, er hätte seinen Schlüssel vergessen, als es später an der Tür klingelte. Filmriss.

Ich erinnere mich an den Anruf des Zugführers am Montagvormittag, wir hatten unser Wochenende verlängert, da wir uns über zwei Monate nicht gesehen hatten. Ich war in Genf unabkömmlich gewesen und dann hatte sich meine Rückkehr mit der Übung ungünstig überschnitten. Zitat. R. sei untypischerweise nicht zum Dienst erschienen und telefonisch unerreichbar. Da haben wir noch geschmunzelt und Scherze gemacht. R. war einer der zuverlässigsten und entspanntesten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Seine Stimme und die Art zu sprechen ist mir im Gedächtnis geblieben, das war einmalig. Im Jahr zuvor haben wir abwechselnd mit meinem Freund für seine Zulassungsprüfung zum Sportstudium bei der BW trainiert - es war unbezahlbar zwei Männer Radschlagen und Rückwärtsrollen üben zu sehen. Ich war fast ein bisschen traurig darüber, dass der Schwebebalken keine geforderte Disziplin war. Ich mochte ihn. Schließlich fuhren wir nachmittags wieder jeder seiner Wege - mein Freund 450km in die Kaserne - ich zum Flughafen. Abends am Telefon sagte er mit brüchiger tonloser Stimme, dass R. tödlich verunglückt ist. Er wollte seinen 25. Geburtstag ganz groß feiern stattdessen sitzen und stehen an diesem Tag hunderte Menschen in der Kirche, um "Leb wohl!" zu sagen. Die Musik spielt wieder. Ich sehe durchs Tor, wie Soldaten den Sarg aus der Kirche tragen und am Grab Wache stehen. Ich laufe los. Ziellos. Hauptsache weg.

Erst einen Monat später gehe ich an sein Grab - mit seinen Eltern. Nachdem wir ihnen seine persönlichen Sachen aus der Kaserne gebracht hatten. Eine Begegnung die mir nach wie vor Angst machte. Was sagt man? Wie verhält man sich? Was tun, wenn sie in Tränen ausbrechen sollten? Instinktiv tat ich wohl das Richtige. Ich ließ sie reden und hörte einfach nur zu, ohne irgendwas Schlaues zu sagen. Wir besuchten sie von da an regelmäßig, das war ihr Wunsch. Seine Mutter nahm mich vor einiger Zeit in den Arm und sagte "Danke, dass Du mir stets Mut gemacht, zugehört und mich wie einen normalen Menschen behandelt hast. Danke, dass ihr mit mir über ihn sprecht." Ich habe unheimlich viel gelernt und mitnehmen können, nicht nur über das Trauerverhalten verwaister Eltern.

Heute ist sein fünfter Todestag. Ich denke schon seit Wochen daran. Überlege, was ich dieses Jahr auf die Karte schreibe. Und dann sind da die Gedanken, wie sein Leben und das seiner Eltern wohl verlaufen wäre, wenn er an diesem Tag nicht ins Auto gestiegen wäre. Es ist viel Zeit vergangen, das Leben geht weiter - aber es hat sich verändert.

"tot“. Ich male das Wort auf ein weißes Blatt Papier, die „t“s als kleine Kreuze. Rückwärts gelesen: „tot“. Wie man es auch dreht und wendet, tot bleibt tot.

Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.

In stillem Gedenken.

14 Kommentare:

  1. Mir fehlen die Worte dazu, ich versuchs aber trotzdem. Dein Post hat mich sehr berührt. Er ist geradezu LEBENDIG, wenn Du verstehst was ich meine?!

    Sowas hört nie auf, Du wirst Dich in 10 Jahren immer noch fragen was Du zu seinem Todestag auf die Karte schreiben sollst..

    Die schlimmsten Fragen sind immer die, die mit WAS WÄRE WENN anfangen, weil man darauf nie eine Antwort bekommt. Sowas hört eben nie auf...

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  2. wie traurig :(...vielleicht schreibst du einen Brief mit diesem Text den du hier geschrieben hast....er ist traurig aber auch schön, besonders der letzte Satz.

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  3. Da ist er wieder, der Tag an dem du mich schon im letzten Jahr sehr berührtest.

    Ich hoffe du kannst mit deiner Trauer durch das Schreiben besser umgehen.

    Herzliche Grüße, Eve

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  4. Einen Menschen zu verlieren ist schwer und so endgültig. Alles was man noch sagen und erzählen wollte kannt man nicht mehr machen. Auch ich habe leider schon diese Erfahrung machen müssen. Wenn man einen Menschen verloren hat und es aber Freunde gibt, die auch nach 5,10 und noch länger mit so viel Liebe an den Verstorbenen denken, dann muss dieser Mensch etwas besonderes gewesen sein.

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  5. http://www.youtube.com/watch?v=Ghs_PolQY6o

    Verstehe Dich gut. Heute wäre mein Papa 66 geworden. Seit knapp 5 Monaten ist er...

    Und dabei heißt es doch: Mit 66 Jahren da fängt das Leben an....

    Niemals geht man so ganz. In Deinem Herzen lebt er weiter.

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  6. Ein Hoch auf wasserfeste Wimperntusche. Aber warum hab ich bloß keine Taschentücher dabei?

    Verdammt. Das Leben ist manchmal so merkwürdig, dass es wirklich weh tut.

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  7. damit hast du mich jetzt echt sprachlos gemacht. sehr bewegend.

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  8. Sehr schön und sehr bewegend geschrieben...ehrlich gesagt fehlen mir auch die richtigen Worte!

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  9. *tief durchatmet*. das ist so traurig und schön zugleich (weil du so liebevoll von ihm sprichst). hört sich vielleicht kitschig an, aber ich kämpfe mit den tränen. ernsthaft. fühl dich ganz fest gedrückt.

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  10. Danke. Der Text hat etwas aus- und losgelöst.

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  11. Ich weiss nicht was ich sagen soll. Der Kloß in meinem Hals sitzt ganz dick und meine Augen sind verdächtig nass beim Lesen geworden. Ja, leider schreibt das Leben seine eigenen Geschichten. Und diese sind oft grausam. Fühle dich umarmt. Alles Liebe...

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  12. "Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt."

    Genau davor habe ich Angst...nicht mehr daran zu Denken....dein Eintrag hat mir genau das wieder klar gemacht!

    Dafür danke ich dir!

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  13. @Merle: Er wirkt wahrscheinlich so LEBENDIG, weil die Erinnerungen genau das sind - lebendig ...es ist das Einzige das uns für immer bleibt.
    Der Schmerz und das Unverständnis bleibt, aber man lernt mit dem Unbegreiflichen zu leben - weisst Du ja selbst - und man ist dankbar.

    Genau diese Fragen vermeide ich immer - nur in diesem Jahr verfolgt es mich schon seit Wochen, vielleicht wegen der magischen Zahl 5 - das ist so eine lange Zeit oder weil ich ständig an seine Eltern denken muss, wie es ihnen in diesen Tagen ergeht. Ich weiss es nicht.
    Danke :)

    @Schuschan: Das ist eine wunderschöne Idee. Ich glaube, sie würden sich darüber freuen...
    Danke.

    @Eve: Es hilft - auch wenn ich heute morgen aufgewacht bin und mir noch so viel im Kopf rumschwirrte, was ich schreiben wollte...aber es hilft.
    Danke und liebe Grüße in den Harz :)

    @Unscha(r)f: Man hört täglich von Todesfällen auf der ganzen Welt. Menschen die Gewaltverbrechen zum Opfer fallen, an Krankheiten sterben, selbst aus dem Leben scheiden oder durch andere Unglücksfälle völlig unerwartet mitten aus dem Leben gerissen werden. Und man fühlt sich
    manchmal auf eine gewisse Art betroffen. Wenn man irgendwann selber einmal zu den Angehörigen und Freunden gehört, die einen geliebten Menschen verloren haben, spürt man nicht Anteilnahme und Betroffenheit, sondern einen
    tiefen Schmerz, den man nicht in Worte fassen kann. Wie Du sagst, der Verlust ist ENDGÜLTIG und macht den Glauben zunächst unwahrscheinlich, dass das Ende auch gleichzeitig ein Anfang sein soll. Man braucht Zeit, dass Unbegreifliche zu erfassen, zu verstehen, was es bedeutet. Letztendlich leben die Toten in uns weiter, wenn wir es wollen.
    "Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht in den Herzen der Mitmenschen." (Albert Schweitzer)

    @cada dia: Ich habe es im Dezember gelesen und es hat mich damals sehr betroffen gemacht. Es ist mit das Schlimmste, wenn die Eltern sterben, egal wie alt man ist. Ein Gedanke den ich gar nicht denken möchte. Worte, die trösten können, gibt es nicht.
    Das Leben spielt nach eigenen Regeln, die wir wahrscheinlich nie verstehen werden.
    Geliebte Menschen zu velieren ist bestimmt eine der größten Herausforderungen in unserem Leben... ich wünsche Dir Kraft.

    @Lola: *schmunzel* Stimmt, eine fantastische Erfindung - schon sieht Frau weniger dramatisch aus ;)
    Da steckt man leider nicht drin...

    @thg: Ich wollte Dich keinesfalls sprachlos machen ;) ...ja, mich bewegt es auch immer noch sehr.

    @Lauffrau: Es floß heute Nacht förmlich aus mir heraus - also die Gedanken, Wörter und Sätze.
    Mhmmmm das war damals auch meine größte Angst, dass ich nicht die richtigen Worte finde...aber ich habe gemerkt, darum geht es auch gar nicht ;) - es gibt keine tröstenden Worte. Alles was hilft ist Zeit und Menschen, die einen auffangen.

    @Mariuca: Ich habe ihn als besonderen, wunderbaren Menschen kennengelernt, der von allen sehr gemocht und geschätzt wurde. ...auch wenn sein Leben eindeutig viel zu kurz war, er hatte ein glückliches, erfülltes Leben, eine wunderbare Familie, viele Freunde - er wurde geliebt. Das ist irgendwie beruhigend zu wissen.
    Ich drück Dich fest zurück :)

    @Jay: Nicht dafür. Mhmmmm ich hoffe nichts Schlimmes.

    @Nila: Danke für Deine Worte, Nila. Ich drück Dich und wünsche Dir eine gute Besserung.

    @Zeigefinger: liebste Grüße nach Ecktown

    @Dosenöffner: Mhmmmm...meinst Du wirklich, man kann den Menschen irgendwann vollständig vergessen? Ich glaube nicht. Wir erinnern uns vielleicht nicht mehr an die Stimme oder die Gesichtszüge - aber es wird immer genauso viele Kleinigkeiten geben, die Dich erinnern - sei es ein Lied, ein Wort, ein Traum, ein Ort, eine Situation,... es gibt so viel.
    Es gibt auch keine Regeln, die besagen, wie oft man an jemanden denken muss oder soll ;) - ich denke, es passiert ganz automatisch von Zeit zu Zeit. Also mach Dir keine Sorgen!

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Ein Hinweis. Ein Blog gehört nur dem Schreiber und ist für ihn der Ort, um alles abzuladen - egal ob nichtssagend, reflektiert, unreflektiert, gewichtig, emotional, scheisse oder sonst was. Ein Blog ist auch ein bisschen als Zugang zu den Gedanken eines Menschen zu sehen, d.h. es ist ein Privileg mitlesen zu dürfen.