Mittwoch, Februar 04, 2009

Ein Mittwoch im September

Ein Mittwochnachmittag Anfang September. Ein wunderschöner, warmer Sommertag. Als uns ein Anruf meines Onkels erreicht. Es ist etwas Schlimmes passiert, meine Eltern sollen sofort kommen! Mir wird eiskalt und übel, der Telefonhörer lässt sich nur mehr unfreiwillig in meiner Hand halten. Im Hintergrund vernehme ich Stimmenwirrwarr, Sirenen und den Lärm den ein Hubschrauber während einer Landung macht. Es war der Rettungshubschrauber, den der Notarzt angefordert hatte.

Meine Mutter erzählte mir später, dass mein Vater sämtliche "überflüssige" rote Ampeln überfuhr auf dem Weg zum Haus meiner Großeltern. Ich sollte mich um meinen Bruder kümmern und beim Telefon bleiben. Manchmal lese ich mir den Tagebucheintrag von diesem einen Mittwoch durch. Die Erinnerungen verblassen langsam. Ich habe Angst sie irgendwann zu vergessen. Stellenweise verschwimmen meine Erinnerungen an ihr Gesicht. Sie hatte so eine mondäne und elegante Ausstrahlung, war in allem unglaublich perfekt. Gekleidet. Frisiert. Geschminkt. Im Geschäftsleben. Haushalt. Garten.... Dafür habe ich sie gelegentlich gehasst - obwohl ich der Liebling war, hatte ich das Gefühl ihren Erwartungen nie zu genügen.

Meine Oma, die stärkste Frau die ich kenne, lag auf der Intensivstation - urplötzlich. Es kam mir vor als stünde ich am Bett einer Fremden. Blass und verletzlich kannte ich sie nicht. Der Arzt meinte, sie würde wahrscheinlich nie mehr aus dem Koma erwachen und wenn sei sie mit großer Wahrscheinlichkeit ein schwerer Pflegefall. In diesem Bett lag nur noch ihre Hülle. Keine Ahnung wie lange ich dort stand - vermutlich nur wenige Minuten. Die Welt um mich tauchte in dicken Nebel. In meinem Körper krampfte sich alles zusammen. Ich ertrug den Anblick kaum. Wollte weg. Wollte das sie aufwacht und mich anlächelt. Nie werde ich diese vielen Geräte und Schläuche vergessen.

Sonntagmorgen habe ich meinen Vater das erste Mal in meinem Leben weinen sehen, als sie uns sagten, dass sie es nicht geschafft hat. Ich wusste es und bin gar nicht erst aufgestanden, weil ich genau DAS nicht hören wollte. Ich wusste es in dem Moment in dem meine Eltern am Abend, nach dem Anruf der Unfallklinik, das Haus verliessen, ich hinter ihnen die Tür schloss, das Licht löschte. Ich stand dort allein im dunklen Flur und spürte aufeinmal eine eigenartige Wärme - dieses Gefühl lässt sich kaum beschreiben. Ich redete ein letztes Mal mit/ zu ihr. Sagte ihr, dass ich sie liebe, sie gehen lasse, wenn es besser für sie ist und flehte im selben Atemzug egoistisch, dass sie bleiben würde, wieder gesund wird. In diesem Moment ist sie gestorben, ich habe es gefühlt. Es war als striff sie mich. 22.14 Uhr.
Genau diese Uhrzeit stand auch auf dem Totenschein. Gestorben mit 64 Jahren an einem Blutgerinnsel infolge eines Sturzes. Sie war so verdammt ungünstig gefallen. Die Kripo untersuchte den Fall, u.a. weil eine erhebliche Summe Bargeld aus dem Haus verschwunden war und legte ihn schließlich als Unfall zu den Akten.


Damals fiel mir ein schöner Spruch der Smashing Pumpkins in die Hände.
"If you have to go, don't say goodbye/ If you have to go, don't cry/
If you have to go, I will get by/ someday I follow you and see you on the other side..."

Die Vorstellung, dass man sich irgendwann nach dem Tod wiedersieht, gefällt mir, beruhigt mich - ich glaube fest daran. Das ist nun 11 Jahre her. Ich war innerlich kalt, wartete auf meine Tränen. Meine Oma sagte im Jahr zuvor als mein anderer Opa starb, man könnte auch innerlich weinen. Ich weinte, es konnte nur niemand sehen. Unser Leben ging weiter. Die Tränen kamen sieben Jahre später, als mein Opa starb. An einem sonnigen Tag Anfang Oktober. Mir wird ewig im Gedächtnis bleiben, was ich an diesem Tag gemacht habe und das "An Tagen wie diesen" von Fettes Brot im Radio lief, als der Anruf meines Vaters kam. Der Parkettboden kam mir im freien Fall entgegen während mir der Telefonhörer aus der zitternden Hand rutschte.

Er begegnet mir noch oft in meinen Träumen. Ein paar Mal stockte mir auf der Straße der Atem, weil ich glaubte, ihn zu sehen. Ich kann mich an jede Einzelheit seines ausdrucksstarken Gesichts erinnern.
Ich habe seine stechenden Augen.

18 Kommentare:

  1. Danke für deinen Text. Kann dazu nicht mehr sagen...

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  2. Das ist unglaublich. Diese Uhrzeit.. 22:14h.. ich bin fest davon überzeugt dass das was zu bedeuten hatte. Solche Tage/Momente vergisst man niemals. Keine Angst, vielleicht wird die Erinnerung etwas verblassen, aber vergessen wirst Du nie!

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  3. "Und draußen ist Frühling
    Dabei müsst es doch schnei'n
    Überall hör' ich Lachen
    Warum kann ich nicht weinen.
    Es geht einfach weiter
    Als wär' gar nicht geschehen..."
    (Rosenstolz: An einem Morgen im April)

    *drück dich* Annika

    PS: Meine Oma starb vor knapp 13 Jahren urplötzlich an einem Schlaganfall. Sie war 62 Jahre alt und wäre dieses Jahr 75 geworden. Es gibt Momente da fehlt sie mir so sehr...

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  4. Auch von mir, herziliche Anteilnahme. Ich kann Dir nur zu gut nachfühlen!

    ....eine Umarmung, ganz fest, nur für dich!

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  5. @caschy: "Lass mein Schweigen dir sagen, was keine Worte sagen können." (Goethe)

    @Merle: Mhmmmm es war wirklich ein ganz eigenartiger Moment, als hätte sie auf meinen Besuch in der Klinik gewartet, bevor sie wenige Stunden später starb.
    Manchmal frage ich mich, wie sie heute wohl wäre, wenn sie noch leben würde oder wie es ihr da geht, wo auch immer sie ist. Nein, ich denke, wir werden die "Toten" wirklich nie vergessen.

    @Schnattersuse: Ein wunderbarer Song.
    Es gibt Momente da schlägt einem das Leben Hammerhart ins Gesicht. Ich glaube Dir, dass sie Dir gerade jetzt sehr fehlt - nur sie sind immer bei uns - in unseren Herzen... *schmunzel* sie passt von oben auf euren Maikäfer auf :) - ganz sicher.

    Ich drück Dich.

    @Eve: Danke, Eve. Es ist ja schon ein paar Jahre her :)

    Umarmung zum Brocken

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  6. Ja, die "Ladies" und ihre Art sich von uns zu verabschieden ist schon toll.
    Meine hat mich zu Tränen gerührt bei einem Lied das ich damals während meiner Arbeit immer wieder hören mußte und als der Sänger wieder ansetzte dachte ich mir nur oh nein nicht schon wieder "AVE MARIA" aber er hat sich nicht beirren lassen. Urplötzlich schießen mir die Tränen in die Augen und ich habe es noch nie so herzzereißend gehört wie an diesem Abend.
    Am nächsten Morgen hat mich meine Mutter dann gegen 11 Uhr angerufen und mich aus dem OP geholt und mir mitgeteilt das die Oma so gegen 22 Uhr gestorben sei.
    Erst viel später habe ich die Zusammenhänge für mich erkannt. 23 Jahre ist das nun her und sie ist immer noch bei mir und lächelt!
    Mensch Resi Du machst vielleicht Sachen.

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  7. He, Frau Evolution, der Eintrag berührt mich. Meine Stiefoma ist genauso gestorben. Sie war immer aktiv und irgendwie hatte ich das Gefühl, sie sei unsterblich. Aber dann stürzte sie und fiel ins Koma und verstarb (Gott sei Dank) am gleichen Tag. Meine Mutter und ich waren im Krankenhaus, die Söhne (also mein Stiefvater und sein Bruder) waren irgendwo. Ich musste ihnen beiden am Telefon mitteilen, dass ihre Mutter gestorben ist.

    Meine "richtige" Oma verstarb, als ich in London lebte und sie hat sich in der Nacht, in der sie starb in meinem Traum von mir verabschiedet. Hört sich crazy an, aber ich werde den Traum nie vergessen. Wie sie im Nieselregen stand und mir zuwinkte, in ihrem Krankenhausgewand. Und ich ihr zurief, sie solle doch ins Warme kommen. Aber sie lächelte nur und winkte weiter.

    Wie gesagt, man glaubt sowas nicht und ich bin auch kein sonderlich esoterischer Mensch, aber meine Uhr in London blieb stehen, in der Minute als meine Großmutter starb und funktionierte seither nicht mehr. Weird.

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  8. ich schließe mich cashy an - danke (das war wirklich, das erste, was mir einfiel)

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  9. @Hans: Du sagst es :) Traurig schöne Geschichte von Deiner Resi. Ich habe beim Lesen dein Gesicht vor meinem geistigen Auge gesehen *schmunzel* ...es ist total kurios, ich meine wie funktioniert das, dass plötzlich Uhren stehen bleiben, man einen 7 Sinn hat, etc.?

    @Lilly: So ist das Leben ;)

    @Hey, Frau Doktor. Richtig, sie war für mich unverwundbar - UNSTERBLICH. Mein Großvater war ohne sie gar nicht lebensfähig, ein Teil von ihm war bereits an diesem Tag mitgestorben und er lebte erst wieder richtig als eine neue Frau in sein Leben trat.
    Todesnachrichten zu überbringen ist keine leichte Aufgabe - genauso wie mit den Zurückgebliebenen zu reden am Telefon, wenn man weit weg ist. Es hat über eine Woche gedauert bis ich die Lebensgefährtin meines Opas anrufen konnte, um ihr mein Mitgefühl auszusprechen und alle Worte die ich mir vorher zurecht gelegt hatte, erschienen aufeinmal so überflüssig. Sie wusste wie sehr ich an ihm hing. Ihn vergötterte.

    Es ist ein schöner Traum, den Du da beschreibst von Deiner Oma. Ich bin auch nicht sonderlich esoterisch angehaucht - nur man kommt tatsächlich ins Grübeln, wenn Uhren just in dem Moment stehen bleiben, man ein Licht sieht, sie sich in Träume schleichen, um Abschied zu nehmen. Meine Opa starb damals in den Armen meiner Oma, sie hat mir Jahre später erzählt, wie er starb und ihre Uhr blieb genau in dieser Minute stehen. Total verrückt...mhmmmm wahrscheinlich gibt's banale logische Erklärungen.

    @Despo: Gern...nur ich habe gar nichts gemacht, ich habe mir lediglich was von der Seele geschrieben.

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  10. Es ist eine schöne Vorstellung sich wieder zu sehen....
    Mir erging es ähnlich, ich war mit meinen Kindern auf den Martinszug und hatte das Gefühl ich müsste dringend und sofort ins Krankenhaus....da war eine innere Stimme die mich rief.
    Ich bin sofort los gefahren und unterwegs roch ich plötzlich ganz stark meine Oma (ich liebte ihren Geruch), mir wurde ganz warm und ich hatte das Gefühl ich werde von diesem Geruch und der Wärme umarmt.
    Ich hielt an weil ich ich überwältigt war und meine Tränen nicht nicht mehr zurückhalten konnte(bis zu diesem Moment konnte ich nicht weinen).....da schellte meine Handy.....genau in diesem Augenblick ist sie gegangen.
    Meine Tante und meine Schwester waren bei ihr und beide schwören Stein und Bein das in diesem Moment das Licht zu flackern anfing.

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  11. Sehr berührender Text.

    Ich glaube schon an ein Wiedersehen nach dem Tod. Weil ich es glauben will. Und weil mich der Gedanke beruhigt, dass die Zeit, die ich mit manchen Menschen hatte, nicht nur so kurz gewesen sein kann. :o)

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  12. Durch Zufall (?) bin ich gerade über Deinen Blog gestolpert und habe Deinen Eintrag gelesen. Ich verstehe sehr sehr gut, was Du hier beschreibst. Im Januar 2007 ist meine Mutter mit 59 Jahren nach einem Hirnschlag und 1 Monat im Koma geestorben. Bis heute verfolgen mich die Bilder, bis heute vermisse ich sie, bis heute trage ich die Traurigkeit mal mehr mal weniger, aber immer irgendwie in mir.
    Kennst Du die Geschichte der traurigen Traurigkeit? Eine rührende Geschichte mit einem hoffnungsvollen Ende. Das ist bisher mein letzter Blogeintrag...

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  13. mit dem eintrag hast du geholfen, (zum nachdenken) angeregt und erklärt - deswegen war mir nach danke sagen

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  14. @Schuschan: GÄNSEHAUT.
    Mich machen die einzelnen Geschichten ziemlich sprachlos, ich kanns einfach nachempfinden. Worte klingen in dem Zusammenhang meist eh nur hohl.

    @Frau W.: Es waren auch großartige Großeltern, denen ich viel zu verdanken habe - auch wenn wir entschieden zu wenig Zeit hatten.
    Mir geht es wahrscheinlich aus genau demselben Grund wie Dir, ich denke, da muss noch was kommen - es kann nicht einfach vorbei sein und ins Nirvana gehen.
    Mit 15 nach dem Tod meines Opas habe ich Bücher über Nahtoterfahrungen verschlungen, weil ich wissen wollte, was da wohl kommen mag. Vor ein paar Jahren hat meine Oma mir erzählt, dass er als er starb ganz friedlich war. Er hat Bewegungen gemacht als würde er etwas abstreifen und er hat gelächelt und als meine Oma fragte, was er macht, sagte er das er in das schöne, warme Licht gehe, dass er sehe - in dem Moment ist er gestorben. Mich hat das irgendwie beruhigt und die Vorstellung gefiel mir.

    @Ich schon wieder!: Das tut mir aufrichtig leid, dass Du Deine Mutter so grüh hergeben musstest. Das eine der grausamsten Vorstellungen überhaupt - solche Gedanken schiebe ich gaaaaaaaaaanz weit weg. Ich glaube, das Vermissen wird nie aufhören - nur ich kann mir vorstellen, dass diese traurige Traurigkeit sich irgendwann in eine noch stärkere Liebe und Dankbarkeit umwandeln kann - dafür das man eine wunderbare gemeinsame Zeit hatte und diesen Menschen lieben durfte.
    Ich werde mir die Geschichte auf Deinem Blog durchlesen :). Ich wünsche Dir viel Sonnenschein, Mut, Kraft & Hoffnung.

    @Despo: DANKE :) - Bitte ;) ...es war Hilfe zur Selbsthilfe.

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  15. Nun bin durch Zufall hier gelandet und finde diesen Eintrag ebenfalls sehr berührend. Als meine Mutter (im Krankenhaus) starb, musste ich gerade in ihrer Wohnung wichtige Papiere suchen. In dem Moment, als sie starb wurde es mir in der Wohnung plötzlich furchtbar eng. Ich fuhr direkt ins Krankenhaus und erfuhr dort, dass es der Moment ihres Todes war. Sie hatte mir zuvor mehrmals nahegelegt, nie in diese Wohnung zu ziehen, solange bestimmte Menschen mit im Haus leben. Vielleicht war es mir deshalb plötzlich zu eng. Vielleicht hat sie mir so nochmals mit Nachdruck zu verstehen gegeben: Bleib nicht hier.
    Was ich noch einige Tage nach dem Versterben meines Schwiegervaters, sowie meiner Eltern hatte:
    Nachts, als ich im dunklen Schlafzimmer lag und an die jeweilige Person dachte, erschienen sehr helle Lichter im Raum. Beim Schwiegervater war es ein einzelnes, so als ob er nach dem Rechten schauen wollte oder sich vergewissern, dass es uns trotzdem gut geht oder vielleicht auch nochmal zum Abschiednehmen. Als ich an meine Mutter damals dachte, erschienen mal 2 Lichter (Mama und Papa?) und einmal sogar 3.
    Ich denke auch, dass es nach dem Tod noch etwas gibt.

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  16. Danke...

    ich habe Angst vor einem bestimmten Tag Anfang März.

    Angst das alles wieder Hoch kommt...und Angst davor nicht weinen zu können.

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  17. @Heike: *schmunzel* Schön, dass Du hier gelandet bist.
    Es ist für mich sehr interessant zu lesen, wie unterschiedlich und doch ähnlich die Erfahrungen mit dem Tod geliebter Menschen sind. Für mich war das bisher ein Thema über das ich nicht geredet habe, weil ich zum einen dachte, man könnte mich für bescheuert halten und belächeln und zum Anderen ist es doch irgendwie ein Tabu-Thema in der breiten Öffentlichkeit.

    @dosenöffner: :)
    Dann wünsche ich Dir vorsorglich Kraft & Zuversicht für diesen besonderen Tag im März.
    Nicht weinen können, ist glaube ich ein verbreitetes Problem - es geht mir nicht anders. Ist fast schlimmer als zu weinen. Lass den Tag auf Dich zukommen und versuche Dich nicht selbst unter Druck zu setzen!

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